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Wie klappen Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung?

Marah und Reto haben schon vieles herausgefunden, was die Ferien mit ihrer Tochter Ronja erleichtert. Für andere Eltern haben sie die bisherigen Erkenntnisse aufgeschrieben.

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Was hilft, wenn man Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung macht? mal ehrlich

Wenn wir mit unserer Tochter Ronja in die Ferien fahren, ist das nicht so, wie wenn andere Familien verreisen. Oder vielleicht doch: Es ist, wie wenn wir mit einem zweijährigen Kind wegfahren würden.

Einem Zweijährigen in der Trotzphase, das keinen Mittagsschlaf mehr macht, 27 Kilo schwer und 130 Zentimeter gross ist. Also mit einem Kind, das man nicht aus den Augen lassen kann, das nicht länger als zehn Minuten alleine spielt, das bei fast allem Anleitung und Unterstützung braucht und das ständig wegen irgendetwas ausrasten kann.

Ronja heisst mit richtigem Namen anders. Unsere Tochter ist knapp neun Jahre alt und hat eine kognitive Behinderung, eine sogenannte Entwicklungsstörung.

Für uns heisst das: Viel Freude mit ihr, viel Liebe für sie, die Welt neu entdecken und durch Ronjas Perspektive mit vielen Menschen in Kontakt kommen, die unser Leben bereichern. Aber auch: viele Kompromisse und Care Arbeit, viel Geduld, Nerven und Regulation, die von uns Eltern abverlangt werden. Auch beim Reisen. Denn in vielerlei Hinsicht ist Ronja auf dem Stand eines Kleinkindes. Sie spricht nur wenige Wörter, gebärdet viel, hat autistische Züge und neigt zu zwanghaftem Verhalten.

Was wir brauchen, wenn wir mit Ronja unterwegs sind? Das finden wir auch immer noch heraus und es verändert sich von Jahr zu Jahr. Nach neun Jahren Erfahrung können wir aber eine kleine Bilanz ziehen:

# Gesellschaft ist wichtig

Wir waren mit Ronja schon in den Bergen und am Meer, in Grossstädten und Bauerndörfern, mit Freund:innen in grossen Häusern, in Luxushotels und Jugendherbergen. Wo es ihr am besten gefiel, ist schwer zu sagen, zumal sie sich ja nicht äussert wie eine Neunjährige.

Was wir aber sehen: Sie hat gerne Gesellschaft und liebt es, andere Menschen zu beobachten und mit ihnen in Kontakt zu treten. Dann spricht sie andere auf deren Ohrringe, Tattoos oder Halsketten an, fragt sie, ob diese neu seien und wo denn ihre Mama sei und ob sie gerade heimgehen. Sie kommuniziert mit ihnen in ihrem Mini-Wortschatz, mir ihrem Kommunikationsgerät, dem Talker, mit Zeigebildern und Gebärden.

Die meisten Menschen sind sehr interessiert, können sich gut kurz mit Ronja über ihre Interessen unterhalten und erzählen uns nicht selten ihre halbe Lebensgeschichte. Wir hatten schon die spannendsten Begegnungen im Zug, in Hotel-Lobbys oder auch im Restaurant.

# Gute ÖV-Anbindungen sind Pflicht

Ronja kann keine grösseren Distanzen gehen, das wird in den Ferien zunehmend zum Problem. Sie ist zwar gut und sicher auf den Beinen, durch ihren schlaffen Muskeltonus hat sie jedoch wenig Kondition. Bis sie sechs Jahre alt war, nutzten wir daher noch den Mountain-Buggy, mittlerweile ist sie für diesen zu schwer und zu gross. Sie auf der Rückentrage mitzunehmen, geht schon lange nicht mehr.

Grössere Spaziergänge oder gar Wanderungen sind daher leider unmöglich geworden und auch kürzere Distanzen werden oft zum nervlichen Drahtseilakt. Wir brauchen also für alle Ferien gute Anschlüsse an öffentliche Verkehrsmittel (wir besitzen kein Auto). Bus, Zug, Tram, Schiff oder ein Velo mit Anhänger oder Transportkiste – die Möglichkeiten sind vielfältig. Und doch fühlen wir uns oftmals limitiert.

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# Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung sind fordernd – Entlastung ist nötig

Unser wichtigstes Fazit nach all den Jahren mit Ronja in Bezug auf unsere eigenen Ressourcen: Wir brauchen Unterstützung und Entlastung. Nicht nur für die Schule und zuhause im Alltag, sondern auch in den Ferien.

Wir benötigen Assistenz oder Horte, Ferienfreund:innen und Verwandte, die uns begleiten, die Verständnis haben für Kinder, die nicht der sogenannten Norm entsprechen.

In Hotels heisst das: Im besten Fall können wir ein Betreuungsangebot dazubuchen, wo liebevolle Menschen sich auf Ronja einlassen und wir etwas durchatmen können und endlich ein bisschen Paarzeit haben. Wie damals im Tirol, wo sich eine Betreuerin des Hotel-Horts, die zufälligerweise Heilpädagogin in Ausbildung war, liebevoll um Ronja kümmerte, während wir ein, zwei Stunden alleine den Wellnessbereich geniessen durften.

# Inklusive Zimmer bedeuten eine grosse Erleichterung

Wer Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung macht, weiss: Eine gute Zimmer-Ausstattung hilft enorm. Zwar muss das Zimmer für Ronja nicht hindernisfrei sein wie zum Beispiel für Kinder, die einen Rollstuhl haben. Aber wir benötigen ein Hotelzimmer mit einem gesicherten Kinderbett – oder einer Möglichkeit, ein solches zu «basteln». Und am besten sind ein abgetrenntes Schlafzimmer und immer eine Badewanne oder Dusche im Zimmer.

Ronja ist so gross wie ein Primarschulkind, fällt aber aus dem Bett wie eben ein Kleinkind. Und sie liebt Wasser. Ronja ein Bad einzulassen oder sie eine halbe Stunde duschen zu lassen, ist für uns eine kurze Pause. Ein Pool ist das Beste, was uns in den Ferien passieren kann. Ronja könnte den ganzen Tag schwadern und planschen.

Auf einen Fernseher können wir hingegen eher verzichten, er ist für Ronja nicht interessant genug, um sie mehr als ein paar Minuten zu beschäftigen.

# Bei Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung sind Toleranz und Diversität wertvoller als ein Wellness-Angebot

Ebenfalls wichtig, ist ein tolerantes Umfeld. Nichts Schlimmeres als Gäst:innen, die sich über ein Kind empören, das auffällt. Dann werden die Ferien zum Stressakt. Daher buchen wir jeweils lieber ein kinderfreundliches Hotel oder eine Herberge, wo es ohnehin schon laut ist und die Angestellten Freude und Verständnis für Kinder haben.

Optimal ist, wenn das Hotel auch Menschen mit Behinderungen anstellt oder es andere Menschen mit Behinderungen unter den Gäst:innen hat. Das ist für uns fast besser als ein zusätzliches Wellness-Angebot – auch wenn wir dieses liebend gerne dazubuchen, am besten noch, wenn es für Kinder zugänglich ist und wir Ronja mitnehmen dürfen.

# Ferien als Kleinfamilie bedeuten mehr Spannungen

Wohl einer der schmerzlichsten Erkenntnisse in Bezug auf Ferien mit Ronja: Zu viert und immer mehr auch zu dritt (Ronjas Bruder ist mittlerweile 18 und macht lieber alleine mit Freund:innen Ferien) befriedigen uns nicht, sondern bedeuten vor allem Stress und Krach.

Die Bedürfnisse sind zu unterschiedlich. Ronja fordert uns zu stark. Wenn wir also ohne Kinderbetreuung reisen, dann nur noch mit Freund:innen, die den Fokus von uns nehmen. Mit vielen Freund:innen und Bekannten in grossen Gruppen an langen Tischen zu essen, ist für Ronja eine wahre Freude – und wenn immer jemand anders wieder Zeit und Musse findet, sich ihr anzunehmen, sind alle glücklich.

# Die Balance aus Ruhe und Action finden: in Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung sehr komplex

Das schwierigste Unterfangen ist wohl, dass Ronja sowohl Anregung braucht und Menschen, mit denen sie kommunizieren kann, Kinder, mit denen sie ins Spiel kommt. Dass sie aufgrund ihrer autistischen Züge jedoch nicht zu viele Eindrücke verarbeiten kann.

Als wir mit ihr in Paris, Amsterdam oder Wien waren, ging das nur gut, wenn wir ganz viel Zeit im Hotel oder in einem ruhigen Park miteinberechneten. Andererseits war sie immer beschäftigt, liebte die Restaurant-Besuche oder Stadtrundfahrten mit dem Bus.

Was hingegen gar nicht funktioniert: Abgeschiedene Tage in den Bergen, auch wenn das ab und an unser Bedürfnis wäre. Zu wenig Eindrücke langweilen Ronja und wenn sie gelangweilt ist, muss alle Unterhaltung von uns kommen. Sie schreit dann auch oft, beginnt zu schlagen oder Haare zu reissen.

Städteferien gehen für uns also vor Abgeschiedenheit, allerdings ist die Kombi aus beidem ideal.

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# Ohne Flexibilität geht gar nichts

Das sind unsere bisherigen Erfahrungen. Aber auch darauf können wir uns nicht verlassen. Ronja entwickelt sich zwar viel langsamer als andere Kinder, aber sie entwickelt sich. Es kommen neue Herausforderungen dazu, ab und an fällt aber auch eine anstrengende Marotte weg.

Flexibel, pragmatisch und anpassungsfähig müssen wir somit immer bleiben. Denn: Ronja ist einfach, wie sie ist. Und Ferien mit Ronja sind einfach speziell.

Unsere Tipps: Hier klappen Ferien mit einem Kind mit einer Behinderung

Centro Magliaso

Wir haben wohl noch nie einen diverseren Ort erlebt. Die unterschiedlichsten Menschen besuchen das Centro Magliaso im Tessin, das eine Mischung aus Jugendherberge, Hotel und Heim ist. Behinderteninstitutionen machen hier genauso Ferien, wie Familien, die Street-Church mit wohnungslosen Menschen als auch Jugendheime.

Die Zimmer sind für unsere Bedürfnisse gut ausgestattet: Wir hatten zwei Zimmer mit einer Verbindungstüre, zwei Bäder, mehrere Matratzen und Decken, womit wir für Ronja ein richtiges Kuschelnest am Boden bauen konnten. Es gibt auch extra Wohnungen und Zimmer, die hindernisfrei sind und wo sich die Türen selbst öffnen für Rollstuhlfahrerinnen.

Auch können Spezialvelos für Kinder mit körperlichen Behinderungen oder auch Lastenvelos gemietet werden. Der Aussenpool ist beheizt und es gibt einen riesigen Aussenbereich mit Grillstellen, Volleyballfeldern, Sandkästen, kleinen Wäldern und direktem Seezugang. Die Menschen im Centro, Gäst:innen und Angestellte sind sehr tolerant, die Lage am See ist einmalig schön. Lugano ist nur eine kurze Zugfahrt entfernt.

Gut zu wissen: Das Centro Magliaso ist ein religiös geführter Ort, das Gelände gehört einer evangelischen Genossenschaft und viele christliche Gruppen treffen sich hier. Nicht selten wird im Speisesaal ein Gebet gesprochen oder gesungen. Uns hat das nicht gestört, Ronja fand es sogar sehr schön, mitzusingen. Auch wenn wir aus der Kirche ausgetreten sind und uns als atheistisch bezeichnen, fühlten wir uns an diesem wohlwollenden und liebevollen Ort sehr wohl.

Full Disclosure: Der Test-Aufenthalt im Centro Magliaso wurde uns kostenfrei gewährt. Die Bilder wurden uns vom Centro Magliaso zur Verfügung gestellt, da wir keine Persönlichkeitsrechte von anderen Gäst:innen verletzen möchten mit eigenen Fotos.

Weitere gute Erfahrungen haben wir hier gemacht:

Hotel Schwarz, Tirol: sehr komfortabel, hat aber auch seinen Preis

Jugendherbergen Schweiz, insbesondere Wellness-Jugi Saas Fee: tolle Zimmer, Schwimmbad gleich daneben

Hotel Zürichberg: sehr angenehmes Hotel, günstig ist es aber natürlich auch nicht gerade

Kinderhotels Schweiz

Rocksresort Laax

Campingplatz Ruderbaum Altnau: unser Stamm-Campingplatz; angenehme Atmosphäre, schönes Gelände und zur Not hat’s auch Zimmer

* * *

Hast du weitere Tipps für Familien mit speziellen Bedürfnissen? Dann schreib sie gerne in die Kommentare!

Marah Rikli, Autorin - mal ehrlich

Autorin

Marah Rikli ist Journalistin und Aktivistin und Mutter zweier Kinder. Sie schreibt Artikel für diverse Publikationen, u.a. «Magazin», «Republik», «Sonntags­Zeitung», «Wir Eltern», «Tages-Anzeiger». Zudem ist sie Host des Podcasts «Sara und Marah im Gespräch mit» der Frauenzentrale Zürich. Ihre Schwerpunkte: Inklusion, Mental Health, LGBTQIA+, Feminismus, Erziehung. Sie ist für diese Themen auch als Referentin oder Moderatorin von Talks und Panels unterwegs. www.marahrikli.ch (Bild: Anja Fonseka)

Autor

Reto Hunziker ist Texter, Bewerbungscoach und freier Journalist. Seine Artikel erschienen in «Magazin», «NZZ am Sonntag», «Sonntags-Zeitung», «Republik», «Wir Eltern» usw. Sein Können vermittelt er auch in Schreibkursen. www.retohunziker.ch

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 28. April 2023 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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Eine Antwort

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  1. Avatar von Huber Michèle
    Huber Michèle

    Ich kann das Reka Ferienresort in Albonago TI empfehlen. Dort konnten meine Kinder Erfahrungen machen mit Kindern, die geistig und/oder körperlich beeinträchtigt sind. Das Kinderprogramm war offen für alle.