Das Leben lehrt uns zurzeit gerade sehr viel: über Politik, Solidarität, Werte, Ängste, Unsicherheiten – mehr als es jeder Stundenplan der Schule könnte. Am meisten aber lehrt es uns über uns selbst, als Eltern.
Alles unter einen Hut zu kriegen, das war schon vorher eine hochkomplexe Akrobatiknummer. Aktuell sind wir versucht, schon frühmorgens das Handtuch zu werfen. Schule, Job, Familie, Partnerschaft und “Me-Time“.
Die liebe Vereinbarkeit. Wir suchen sie. Und finden sie auch im aktuell beschränkten Radius nicht.

Aber: Werden sich die Kinder später daran erinnern, was sie während der Coronazeit für die Schule gemacht haben? Werden wir Erwachsenen uns erinnern, welche Deadlines wir einhalten konnten, trotz unzumutbarer Umstände? Macht es wirklich Sinn, alles irgendwie auf Biegen und Brechen hinzukriegen, oder es auch nur zu versuchen?
Das alles wird schnell vergessen sein, da bin ich sicher. Was bleibt, ist das Gefühl.
Aktuell sind die Kinderaugen auf uns gerichtet, auf Mama und Papa. Wir sind ihre Welt, die zusammengeschrumpft ist. Wie kleine Kameras beobachten sie uns, zoomen näher ran, das Lämpchen scheint dauernd rot zu blinken. Als möchten sie uns ohne Worte mitteilen: “Ich habe alles im Kasten!”
Lektionen, die wir nie vergessen werden
Beobachtet wird uns ungemütlich schnell bewusst, welches Gewicht auf uns Eltern lastet. Wir leben gerade vor, wie man mit dieser Situation – die wir selber noch nicht beherrschen – umgehen. Lebensschule gratis, nicht mit Frau Iseli oder Frau Meier, sondern mit Frau Corona. Ganze 24 Stunden lang am Tag. Lektionen, die wir alle nie vergessen werden.
Jahrelang übte ich den Lehrerberuf aus. Bis heute frage ich mich, ob ich in meinem Lehrerinnendasein den Kindern mehr lehrte oder umgekehrt, sie mir. Ich schmunzle noch heute über einen ehemaligen Erstklässler, der voller Überzeugung zu mir sagte: “Frau Gervasi, mi Grossvater weiss de im Fall o alles! Er isch äbe o Lehrer gsi!”

Zugegeben, Lehrer wissen nicht alles. Aber sie leisten unglaublich wichtige Arbeit. Arbeit, die wir Eltern nicht auf Knopfdruck mit ein bisschen Freestyle-Schooling und einem Stapel Arbeitsblätter übernehmen können und auch nicht sollten. Spannungen, Überforderung und Konflikte sind vorprogrammiert beim Fernunterricht.
Die Idee: bitte das gleiche Leben wie vor Corona, neu ohne Betreuung, in Isolation, mit Home-Office-Aufteilung zwischen Mutter und Vater, auf engstem Raum und vielleicht noch mit einem Elternteil als übermotivierter Lehrperson.
Mehr Vereinbarkeit mit weniger Ressourcen? DAS ist keine gute Idee.
Neben dem Elternsein, meist berufstätig, hat keine Lehrerrolle Platz. Der Job als Eltern hingegen lässt sich nicht abstreifen, und er ist zur Zeit unglaublich wichtig geworden. Wir sind da, um unsere Kinder liebevoll durch diese Krise zu führen, ohne uns selber zu verlieren. Versuchen, den Kindern das Weltgeschehen zu erklären, wenn abends vor dem Zubettgehen die grossen Fragen kommen. Und wir sind gefordert, mit Struktur ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen Dingen, die sein müssen und solchen, die sein dürfen.
Während wir lernen, lernen sie mit.
Meine Kinder nerven leise
Die erzwungene, gemeinsame Zeit ist auch eine, an der wir wachsen können. Um in Beziehung zu gehen, bewusst zu umarmen, die geschenkte Zeichnung mit dem Kind detailliert anzuschauen, gemeinsam den Staubsauger durch die Wohnung flitzen zu lassen oder die Langweile auf dem Elternschoss auszusitzen. Im 24-Stunden-Familienbetrieb sind wir an unseren Kindern näher dran denn je. Oder sie an uns?
Nicht, dass ich trotz heiteren Stunden mit den Kindern nicht regelmässig auch bärbeissig und genervt wäre, oh ja. Das musikalische Crescendo der “Füdli putzeeeee!”-Oper unterliegt oft einem äusserst unglücklichen Timing.
Und: Meine Kinder können auch leise nerven. Sie stellen mir neuerdings ihre gefühlten 146 Fragen leise, während ich mit dem Steueramt telefoniere. Flüsternd. So stören sie mich sicher nicht, meinen sie.

Bei aller Liebe, die jetzige Situation verlangt einiges von uns ab. Aber ständige Unzufriedenheit tut es ebenso. Die Kinder haben im Moment “nur” uns. Wie wir diese gemeinsame Zeit erleben und vorleben wollen, entscheiden wir. Und auch, wieviel wir uns und ihnen zumuten wollen.
Machen wir doch einfach weniger.
Weniger Wochenpläne, weniger saubere Küche, weniger online, weniger Förderprogramm, weniger Wäsche waschen, weniger “wart schnäu, i chume grad”, weniger “ich sollte doch”. Grundsätzlich weniger Druck, alles pünktlich und perfekt erledigen zu müssen. Können wir die aktuelle Situation so als Chance erleben?
Ich denke an die unzähligen kleinen und wertvollen Momente, die nun, in unserer ausserordentlichen Lage, entstehen: Die Gespräche, die zwischen Eltern und Kind zustande kommen, weil sie jetzt, unmittelbar sind. Die komischen Ideen, die durch die Langeweile plötzlich entstehen. Die fantasievollen Räubergeschichten, die beim Mittagessen mit Gabel und Salatbesteck dramatisch zum Leben erweckt werden.
Mal gelingt es uns, die Ausnahmesituation zu meistern, oft scheitern wir. Und das ist okay. Wir halten gemeinsam durch und bestärken uns. Nicht als pädagogisch korrekte Lehrpersonen oder toughe Multimanager, sondern als Eltern, die tun, was sie können.
Eltern – die jetzt einfach mal “es Füfi grad” sein lassen.
Marion Gervasi lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern (8, 5 und 3 Jahre) in Zürich. Die ehemalige Kindergarten- und Primarlehrerin glaubt an das grosse individuelle Potenzial, das in jedem Kind und Erwachsenen schlummert. Grosse und kleine Menschen vermehrt miteinander zu verbinden, sieht sie als wertvolle Chance, über Schulbücher hinaus zu lernen. Bildung – neu, frisch, vernetzt und so nah am Leben wie möglich. www.mariongervasi.ch.
Vera
Danke hierfür!