Mein Sohn kommt bald in die Primarschule. Laut Stichtag wäre es der 20. August 2018, nach der Kindergärtnerin warten wir lieber noch ein Jahr, obwohl der Sohn viele Kindergartenkompetenzen laut Lehrplan schon ganz prima meistert: «Das Kind» kann beispielsweise «verschiedene Werkzeuge wie Schere, Farbstifte usw. zweckmässig führen» oder «es beherrscht motorische Fertigkeiten wie zum Beispiel die Rolle vorwärts». Das freut mich natürlich schampar.
Ich war zugleich Musterschülerin und ein Musterbeispiel für ein Kind, dem man das Lernen verleidet.
In anderen Dingen gibt’s noch Luft nach oben. Wie oft hätte ich mir bei meinen erwachsenen Mitmenschen schon gewünscht, dass mein Gegenüber «Erlebnisse, Anliegen, Gefühle und Ansichten so mitteilen würde, dass seine Erfahrungen für andere nachvollziehbar werden, dies in verbaler, nonverbaler und symbolisierter Form». Der Grundstein für eine erfolgreiche Paarbeziehung wird also bereits im Kindergarten gelegt. Spitz ja die Ohren, mein Sohn, während du deine Hechtrollen übst!

Die Auseinandersetzung mit dem Ernst des Lebens hat bei mir neben dem «Wann» noch andere Fragen aufgeworfen. Ich erinnere mich an den eigenen Chrampf, die Jahre, in denen ich vor lauter Prüfungsangst nicht schlafen konnte, in denen mir ein Viereinhalber den Tag versauen konnte und an die vielen Stunden, in denen ich mir Wissen in den Kopf stopfte, das ich am nächsten Tag erbrach und damit für immer vergass. Ich war zugleich Musterschülerin und ein Musterbeispiel für ein Kind, dem man das Lernen verleidet.
Da hat sich einiges getan, aber.
Eine subjektive Erfahrung, selbstverständlich, die ich aber meinen Kindern ersparen möchte. Ich fing also an, mich über den Status Quo in Sachen Volksschule in der Schweiz schlauzumachen. Und merkte: Da hat sich seit meiner Zeit einiges getan. Kompetenzen werden gefördert anstatt starres Wissen vermittelt, der Frontalunterricht ist nicht mehr das Mass aller Dinge und vielerorts gibt es altersübergreifende Stufen.
Aber: Vieles ist auch gleich geblieben, seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht anno 1874. Die Schule hatte in der Zeit der Industrialisierung vor allem die Vermittlung bürgerlicher Werte zum Ziel und auch: die Ehrerbietung gegenüber höher Gestellten. Die Kinder sollten folgen lernen, gute Arbeiter werden. Bewertet wurde mit Noten, so wie heute. Wer die Norm nicht erreicht – auch heute noch –, fällt durch oder fast noch schlimmer, langweilt sich ins Desinteresse.
Genau hier harzt es mit meinem Verständnis für die Volksschule. Warum muss Gelerntes numerisch «genügen» – sollte es nicht primär interessieren? Sind Kinder nicht von Natur aus neugierig, haben das intrinsische Bedürfnis, sich Wissen anzueignen, aber womöglich nicht von acht bis neun oder in einem begrenzten Zeitrahmen einer 45-Minuten-Lektion?
Wie kann die Auffassung Bestand haben, dass jedes Kind die gleichen Fähigkeiten mitbringen sollte? Wo ist der Raum für Individualität und Kreativität, die den aktuellen Zeitgeist sonst überall prägen? Warum erziehen wir faktisch weiterhin Arbeiter, wenn das automatisierte Handeln in Zukunft Maschinen übernehmen werden und wir Menschen brauchen, die querdenken können?
Als hätte ich Roger Federer ins Gesicht gespuckt
Es sind Fragen, die selbstverständlich nicht nur ich mir stelle, sondern Vordenker wie beispielsweise der deutsche Philosoph Richard David Precht oder die Schweizer Kinderarztkoryphäe Remo Largo, aus deren Argumentation ich mich bediene. Was mich erstaunt: Es sind auch Fragen, die angreifen und andere persönlich treffen. Mehr als einmal musste ich schon merken: Die Kritik am Bildungssystem der Schweiz trifft ins Innerste – nicht selten endeten Gespräche in heftigen Diskussionen. Die Schule, sie ist eine heilige Kuh.
Als hätte ich Roger Federer ins Gesicht gespuckt, so schauen sie mich an, die Eltern von Schulkindern, denen ich die Sinnfrage stelle. Mein Rütteln an ihrem Weltbild kontern sie mit «aber er geht ja meistens gerne hin!», der Wunsch nach mehr Freiheit wird quittiert mit «da müssen sie halt durch».
Aus dem Streitgespräch entferne ich mich dann jeweils gerne mit einer seit Kindergarten perfektionierten Hechtrolle. Und flüstere, in sicherer Distanz, ganz leise: «Aber wozu?»
Dieser Beitrag erschien erstmals als Kolumne bei WirEltern.
Gastautorin Nicole Simmen ist mit meiner Meinung überhaupt nicht einverstanden. Als überzeugter Volksschul-Fan hat sie einen Konter geschrieben auf diesen Text, hier zu lesen: “Bisch sicher? – Eine Antwort auf Andrea Jansen’s Schulkritik”. Lesen.
Ebenfalls mit dem Thema alternative Schulen befasst sich der Beitrag “Freilernen – Schule ohne Druck”, inklusive einer Liste von freien oder demokratischen Schulen in der Schweiz.
Zur Kritik am Schulsystem hat auch Gastautorin Marah Rikli Stellung genommen: “Stellungnahme zum Leitfaden für die Primarschule” und sie findet ebenfalls: “Yoga gehört in die Schule”.
Und wie es sich anfühlt, das Kind zum ersten Mal gehen zu lassen: “Loslassen”.
Autorin
Andrea Jansen ist die Gründerin und Chefin von Any Working Mom. Sie reist gerne durch das Leben und um die Welt, versucht, weniger zu micromanagen und mehr zu schlafen. Sie ist Unternehmerin, Stiftungsrätin, Journalistin und Mutter von drei Kindern. Seit mindestens drei Jahren will sie ihre Website updaten und kommt nicht dazu – bis dahin findet man sie auf Insta als jansenontour.
Svea Wolkenfrei
Hallo Andrea
Mein Mann und ich, stellten uns in etwa die selben Fragen wie du. Nach langem Hin und Her, haben wir uns nun für eine freie Alternativschule entschieden, die das Freilernen so gut es geht ermöglicht. Unser ältester Sohn wurde diese Woche eingeschult und ich schreibe in meinem Blog darüber. Vielleicht interessiert dich das? Herzliche Grüsse und Euch gute Entscheidung.. Svea
Andrea Jansen
Liebe Svea, klar, teile doch gerne Deinen Link – vielleicht interessieren sich andere auch!
Svea Wolkenfrei
Klar, das mache ich gerne.
http://www.dreimalfrei.ch
Liebe Grüsse Svea
Svea Wolkenfrei
Das mach ich natürlich gerne. Vielen Dank.
Auf http://www.dreimalfrei.ch schreibe ich zum Thema: Freilerneralltag von heiter bis wolkig darüber. Wir sind mit der freien Schule frisch gestartet. Man kann also noch von “Anfang an” dabei sein, wenn man will 🙂
Herzliche Grüsse
Svea
Michèle
Liebe Andrea
Dass du die Dinge hinterfragst zeigt doch, wie wenig dir die Schule die Neugier verleiden konnte. Ich habe kürzlich eine pensionierte Lehrerin, die wir spontan im Tram kennen lernten, gefragt, warum man den Schuleintritt nicht rollend machen könne. Ein Jahr ist für ein Kind so lange. Sie schaute mich erst ganz gehäuselt an, war aber, bei der Station angekommen, dann nicht abgetan. Das hat mich ermutigt.
Liebe Grüsse
Michèle
Andrea Jansen
Liebe Michèle – finde ich schön. Eben, es gibt ja nicht richtig und falsch. Aber manchmal fängt man ja erst an, sich die Dinge zu überlegen, wenn man mit ihnen konfrontiert wird. Das ist auch Sinn und Zweck dieses Textes.
Claudia
Hallo Andrea
Du sprichst mir aus dem Herzen. Mein Sohn ist jetzt seit einem halben Jahr im Kindergarten und ist, da er im Oktober Geburtstag hat, miteiner der ältestens in seiner Gruppe.
Meim Sohn ist ein Junge wie aus dem Lehrbuch (haha passendes Wort). Er ist wild, laut, liebt Bewegung, intressiert sich extrem für Sport, Sprachen, Flaggen und kann stundenlang in seinem Zimmer auf dem Teppich Legoautos erbauen. Er ist ein Meister im Sandkasten, liebt die Werkstatt seines Grossvater und turn im Kinderturnen schon wie der nächste Weltmeister. Er ist perfekt, mit seinem Bewegungsdrang, seiner Energie und seiner tempramentvollen Art und seinem vielen Gaben!
Doch passt er mit seiner Art auch in den normalen Kindergarten? Dies entscheidet leider die Kindergartenlehrerin… und genau das finde ich falsch. Denn seine Lehrerin findet seine Art, sein Energie als stöhren und nicht angepasst… er sollte andere Dinge können als Tore schiessen, eine Schraube alleine mit dem Aku reinschrauben und Monstertracks aus Lego bauen. All diese Begabungen sind leider in unsetem Schulsystem wertlos..
Na dann.. freuen wir uns auf die nächsten 8,5 Jahren…
Aber eines wird unser Sohn definitiv auf den Weg mitbekommen von uns: KEINE Note, egal ob gut oder schlecht, bestimmt wer er ist!
Ilona
Liebe Andrea,
Ich bin ganz Deiner Meinung, dieses Bildungssystem muss hinterfragt werden! Es ist eine absolute Schande, wenn die natürliche Begeisterung und das Interesse der Kinder durch ein Notenschema bewertet und nach Lehrplan gebremst wird.
Ich hoffe sehr, dass sich da noch einiges tun wird und wünsche Dir, dass Ihr für Eure Kinder eine gute Lösung findet!
Fränzi
Liebe Andrea
Ich bin Lehrerin an einer 6. Klasse an der Volksschule. Ich finde es hat sich wirklich viel getan. Gerade heute hatten wir einen Friedensmorgen. Es wurde altersdurchmischt gelernt und wir haben uns über den Klimawandel unterhalten. Solche Anlässe sind keine Ausnahme. Die heutigen Lehrer sind innovativ und bilden sich stetig weiter. Ich werde meinen Jungen gerne auf die Volksschule schicken und falls er sich mal langweilt, lernt er sich zu beschäftigen, zu warten und seine Bedürfnisse auch mal kurz zurück zu stellen. Dinge, die man im Leben auch braucht.
Andrea Jansen
Liebe Fränzi, das ist doch wunderbar. Ich würde meine Kinder auch sehr gerne auf die Volksschule schicken, wenn diese grossflächig von dieser Normierung der Kinder wegkommen würde, und mehr Individualität und Kreativität erlaubt. Momentan ist das leider sehr von den Lehrpersonen und der Schulleitung abhängig. Lernen, sich selber zu beschäftigen und zu warten, sind Dinge, die man so oder so lernen muss. Für mich war die Langeweile, und die vergeudete Zeit, in der ich lieber etwas GELERNT hätte, sehr frustrierend während meiner Schulzeit.
Ich plädiere ganz sicher nicht für mehr Privatschulen, denn das generiert wiederum eine Bildungsschere anhand von Einkommen. Aber ich wünsche mir eine innovativere Umsetzung der Volksschule, so wie sie an vielen Orten in dieser Welt bereits vorangetrieben wird (z.b. intrinsic.ch).
Manuela
Hallo zusammen
Merci für den Beitrag. Meine Tochter ist nun 10 (4. Klasse) und wir überlegen und wir sind ziemlich enttäuscht von der öffentlichen Schule: Das Niveau ist tief, die Klassen riesig und die Vereinbarkeit nur mit einem extremen Spagat machbar. 2 meiner Kolleginnen (berufstätig) setzten nun auf eine Privatschule mit Kinderbetreuung und kleinen Klassen (10 Kinder). Würde das wohl auch machen, wenn wir nochmals entscheiden können.
Flu
Liebe Andrea,
Ich teile deine Meinung. Doch zu erwähnen ist, dass sich nicht jede Familie eine andere Alternative leisten kann. Alternativen sind Privatschulen welche oft relativ viel kosten. Es ist somit ein Privileg dem Kind eine Alternative zu der öffentlichen Schule bieten zu können. Dies einfach noch als Ergänzung zu deinem Beitrag…
Andrea Jansen
Liebe Flu,
ich glaube, das erwähne ich im Beitrag und ja, das ist ein grosses Problem, das zum Beispiel mit einem Bildungsbeitrag wie in Holland gelöst werden könnte. So kann jede Familie ihre Schulform selber wählen, unabhängig vom Einkommen. Dazu muss ich auch sagen, dass ich in Kontakt bin mit diversen alternativen Schulen und die meisten sich stark bemühen, subventionierte Plätze anbieten zu können.
Monika & Thomas
Liebe Andrea! Vielen Dank für den Beitrag zur „heiligen Kuh“ 😉 Dein Aussagen haben nichts an Aktualität verloren. Vielmehr erleben wir mit der Pandemie gerade wieder in Echtzeit die Grenzen unseres Schulsystems. Unzählige Kinder kommen mit speziellen Lernbedürfnissen aus dieser verrückten Zeit mit Ausfällen, Schulschliessungen und Lockdowns. Sie können nicht einfach die Norm erfüllen. Sie haben Lücken und brauchen Unterstützung, Wiederholung, mehr Zeit… Und da steht das System an. Hier können wir als Eltern ganz viel für unsere Kinder tun. Wir erleben das in unserer Arbeit mit Familien, deren Kinder massive Lernschwierigkeiten haben. So viel ist möglich, wenn wir auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen. Da können wir Mamas und Papas ganz viel für unser Kinder bewegen!