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Krebs. Beim Kind. – Vom Leben nach der Schockdiagnose

Plötzlich gerät die Welt aus den Fugen: Das Kind hat Krebs, könnte sterben. Wie können Familien damit umgehen? Wo erhalten Eltern Hilfe?

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Eine Krebsdiagnose wirft das Familienleben über den Haufen. mal ehrlich

Meret klettert auf ihr Hochbett mit der ganz speziellen Fassade. Ihr Papi hat sie gemacht, hat eine grosse, bemalte Holzplatte mit einem Guckloch ans Bettgestell montiert. Meret steckt ihr Gesicht durchs Loch – und plötzlich ist sie Rapunzel. Das Bild auf der Platte zeigt nämlich bodenlange Haare, eine Prinzessinnenfrisur. Meret findet lange Haare wundervoll. Sie sind schick, hübsch und so, aber vor allem bedeuten sie: Der Krebs ist weg.

Heute ist Meret stolz auf ihre langen Haare. (Bild zvg)

Fünfeinhalb ist Meret jetzt. Eigentlich heisst sie Emerentia, das klingt recht prinzessinenhaft. Sie ist aber kein zimperliches Prinzesschen, eher eine wilde, willensstarke Regentin. Eine, die in jungen Jahren schon viel gemeistert hat.

Der Krebs ist da – und alles anders.

Es ist noch nicht lange her, da hatte Meret keine Haare. Weil ihr Leben plötzlich über den Haufen geworfen wurde.

Wochenlang ist Meret nicht fit. Ständig kränkelt die damals Dreieinhalbjährige, und wenn sie doch mal rumtobt und sich weh tut, gehen die blauen Flecken ewig nicht weg. Der Kinderarzt testet die Blutwerte, schlecht sind sie, ungewöhnlich schlecht – er überweist die Kleine ins Spital. Dort ist schnell klar: Das ist Krebs. Nach vier Stunden mit Tests, Warten und Bangen nennen die Ärzte den Eltern die Diagnose: ALL, Akute Lymphatische Leukämie. Die Therapie muss sofort beginnen.

Die Familie ist plötzlich mitten in einem Alptraum.

Papi Otmar sagt: «Die ersten Tage waren der Horror. Erst, bis man Gewissheit hatte. Dann war es für Meret sehr schwierig. Sie war bis dahin ein offenes, kontaktfreudiges Kind. Aber in den ersten sechs Wochen waren da plötzlich so viele Menschen, die sie anfassten, etwas von ihr wollten. Klar, hat sie darauf reagiert: mit Trotzanfällen

Das erste Glück im Unglück: ALL ist nicht extrem aggressiv, die Heilungschancen sind verhältnismässig gut. Das zweite Glück im Unglück: Merets Wesen. Sie findet zurück zu ihrer Unkompliziertheit, gewöhnt sich an die Spital-Atmosphäre, findet sogar, dass es dort gut riecht. Und sie entwickelt einen guten Umgang mit all den Erwachsenen, die an ihr herumhantieren müssen. Bald beginnt sie ihnen reinzureden, wenn sie was nicht so gut machen.

Auch auf die Chemotherapie spricht das Mädchen gut an. Meret darf wieder nach Hause, muss einfach regelmässig zur Therapie ins Spital, täglich Medikamente nehmen und alle ein bis zwei Wochen zur Blutkontrolle. Es sieht recht gut aus. Trotzdem:

10-20 Prozent der Patienten mit dieser Krebs-Erkrankung überleben nicht.

Die Eltern müssen sich damit auseinandersetzen, dass ihr Kind sterben könnte. Müssen dem Kind irgendwie erklären, was passiert. «Ich habe über Leben und Tod mit ihr gesprochen. Einmal streikte sie bei der Einnahme von Medikamenten. Ich musste sie niederdrücken und festhalten – da habe ich ihr genau erklärt, warum ich das tue, dass es letztlich ihr Entscheid ist. Dass sie selber wirklich überleben wollen muss. Ab da gab es keine Probleme mehr. Kinder können natürlich nicht vollends verstehen, um was es geht. Aber sie spüren, wie ernst es einem ist», sagt Otmar.

Eine Krebs-Diagnose wirft das Familienleben über den Haufen. www.anyworkingmom.com
Die Zeit zusammen geniessen – und über den Krebs, über Leben und Tod sprechen: so wichtig, so schwierig. (Bild: Pixabay)

Wie ernst es ist, sieht und spürt Meret auch an sich selbst. Sie verliert ihre Haare, ihr Körper wird aufgedunsen, die Gelenke tun furchtbar weh. Otmars Stimme wird leise, wenn er von den Nebenwirkungen erzählt, es sind keine schönen Erinnerungen: «Manchmal zog sie sich nur noch am Geländer die Treppe rauf, weil sie so starke Gelenkschmerzen hatte. Oder sie ging auf die Veranda hinaus, setzte sich auf ein Stühlchen und hörte einfach nur den Vögeln zu, weil ihr alles andere zu viel war.»

In der anstrengenden Zeit, dem halben Jahr Chemo und den eineinhalb Jahren Erhaltungstherapie, will der Vater nur das wichtigste Medizinische wissen: Wie man die speziellen Medikamente geben und auf welche Veränderungen man reagieren muss. «Ich wollte nicht umfassend informiert sein, Studien lesen oder im Internet rumsuchen, das hätte mich eher verunsichert.» Erst nach den überstandenen zwei Jahren hat er sich wissenschaftlich genauer informiert – auch als Verarbeitung.

Den Krebs thematisieren

Meret verfolgt eine eigene Verarbeitungs-Strategie: Vorpreschen statt sich verstecken – typisch Meret halt. Beim Eintritt in den Kindergarten hat sie drei Zentimeter lange Haare, weniger lang als andere, aber immerhin. Trotzdem will sie Getuschel vermeiden und macht drum einen Vortrag über ihre Krankheit. Das bin ich, das ist mir passiert, sodeli.

«Damit kam sie nicht nur dem Geschwätz zuvor. Es half ihr auch beim Bewältigen der vergangenen Monate: Vorher wollte sie sich nie auf Fotos erkennen, wo sie keine Haare hat. Dieser Vortrag hat geholfen, dass sie akzeptiert, einmal so ausgesehen zu haben», sagt Otmar.

Meret im Kinderspital. (Bild zvg)

Riesiger Pendenzenberg

Für die Eltern ist es eine Erleichterung, dass Meret so gut mit ihrer Krankheit umgeht, so wenig bockt bei der Einnahme von Medikamenten, bei den Blutkontrollen. Trotzdem ist es irrsinnig anstrengend, immer für ein krankes Kind da zu sein. An all die Medikamente zu denken, ständig zur Blutkontrolle zu fahren, rasch auf kleinste gesundheitliche Veränderungen zu reagieren, wieder alles Organisierte umzuplanen. Gleichzeitig müssen sie auch für Merets zwei kleinere Geschwister präsent sein.

Genau das ist es, was Familien oftmals weit über ihre Grenzen bringt: Neben der riesigen emotionalen Belastung kommt ein immenser Pendenzenberg hinzu. Wenn das Leben plötzlich aus den Fugen gerät, muss so vieles neu organisiert werden.

Eine Krebs-Diagnose, tausend Fragen

Müssen Eltern weiterarbeiten, auch wenn das Kind Tag und Nacht im Spital jemanden bei sich haben muss? Wo findet man Haushaltshilfen? Was zahlt die Krankenkasse? Wo hilft allenfalls eine Stiftung für Krebspatienten? Tausende Fragen tauchen auf, und wer hat in dieser stressigen Zeit schon Energie zum Rumgooglen, Telefonieren, AGBs und Ratgeber durchlesen?

Klingt zermürbend. Aber Otmar sagt: «Man wird nicht alleingelassen, dafür bin ich extrem dankbar. Das Kinderspital Zürich ist super. Man wird nicht nur medizinisch hervorragend betreut, sondern hat auch verschiedene Angebote für Beratungen, spirituell, psychologisch, und für mich sehr wertvoll: einen Sozialdienst. Der informiert, welche Rechte man hat bei Arbeitgebern, Krankenkasse oder so – da wäre ich sonst unter die Räder gekommen. Wir bekamen auch Kinderbilderbücher, die das Thema anschaulich behandeln. Ausserdem gibt es Organisationen und Stiftungen, die Unterstützung bieten, Kinderkrebshilfe, Krebsliga und so weiter. Es gibt Haushaltshilfen, günstige Wohnungen in Spitalnähe und Angebote für die Zeit nach der Therapie, etwa Ferien.»

Taten statt Worte

Enorm wertvoll ist auch konkrete Hilfe von Mitmenschen. Nicht nur Angebote zum Reden, sondern ganz Praktisches: Einkaufen, Wäsche waschen, mal zwei Stunden auf die Kinder aufpassen und so weiter. Das entlastet enorm. Nur: Man muss es annehmen können. Und das fällt manchmal sehr schwer. «Ich konnte das besser als meine Frau. Einige Unterstützungsangebote wurden meiner Meinung nach zu früh gestoppt», sagt Otmar im Nachhinein.

Denn, trotz all der Hilfe: Man rotiert, funktioniert, aber es gibt so viele Brandherde.

«Und wenn Meret stirbt? Dann hätte ich die letzte Zeit mit ihr verpasst.»

«Es bleibt unglaublich vieles liegen, im Haushalt, bei den anderen Kindern. Unsere mittlere Tochter zum Beispiel hatte es schwer zwischen der kranken, grossen Schwester und dem süssen, kleinen Baby. Da lege ich nun ganz viel Wert drauf, ihr wieder viel mehr Aufmerksamkeit und exklusive Zeit zusammen zu schenken», sagt Otmar.

Eine Krebs-Diagnose wirft das Familienleben über den Haufen. www.anyworkingmom.com
Neben all den emotionalen Herausforderungen, die eine Krebs-Diagnose mit sich bringt, muss der Alltag irgendwie bewältigt werden. (Bild: Pixabay)

Auch in der Paarbeziehung kann manches liegenbleiben, können Risse aufbrechen – manchmal unkittbar. Eine solche Extremsituation nimmt den Partnern die Kraft, ausgleichend zu wirken. Man ist, wie man ist, es werden Dinge offenbar, die vielleicht sonst nie so krass aufgetreten wären. Man sieht, ob es funktioniert. Diese Beziehung funktionierte nicht so, wie sich das beide Elternteile wünschten.

Und dann ist da noch man selbst, das geht im ganzen Trubel oft unter – und das ist nicht gut. «Ich habe es zweimal übertrieben», sagt Otmar. Zweimal legte ihn eine Lungenentzündung flach. Daraus lernte er: «Man muss funktionieren, darf sich selber aber nicht ganz aufgeben. Vieles lässt sich organisieren, aber man muss auch den Anspruch an sich selber zurückschrauben

Zurückschrauben ist so wichtig – und so schwierig. Manche Eltern können das fast nicht, teilweise werden sie plötzlich in ungewollte Rollen gedrängt: Einer muss arbeiten, der andere alles daheim managen. Das wollten Otmar und seine Frau nicht. «Und wenn Meret stirbt? Dann hätte ich die letzte Zeit mit ihr verpasst.» Beide arbeiten Teilzeit, wie sie das schon vor der Familiengründung abgemacht haben. Was Otmar sich aber wünschte, wäre mehr Sensibilität am Arbeitsplatz. «Viele Kollegen haben anfangs Verständnis, aber das lässt recht schnell nach, wenn man über einen langen Zeitraum immer wieder fehlt – teilweise ungeplant. Dann entstehen schlechte Gefühle und Gemunkel. Rechtlich ist der Fall zwar klar, aber hier wäre es an den Chefs, dem einen Riegel vorzuschieben. Man hat wirklich keinen Nerv, sich noch mit Vorwürfen rumzuschlagen.»

Langsam zurück zum normalen Leben.

Meret stürmt ins Wohnzimmer. Wieder mal. Das Gespräch zwischen Journalistin und Papi dauert ihrer Meinung nach ewig, und dabei würde sie noch gerne so vieles zeigen: Eine Tanzvorführung machen, zusammen ein Bilderbuch anschauen, schwatzen, singen, was auch immer. «Sie war schon immer quirlig und im positiven Sinne fordernd. Aber das hat sich sicher noch verstärkt durch die Krankheit», sagt Otmar.

Meret, neugierig und voller Leben. (Bild: zvg)

Zwei Jahre lang stand Meret total im Mittelpunkt. Sie ist an der Krankheit gewachsen, wirkt nun wahnsinnig geerdet. Aber sie ist auch verwöhnt worden, weiss Otmar: «Meret fühlte sich wohl im Spital. Klar, sie durfte Filme schauen, im Bett essen, ein Elternteil war immer bei ihr, sie hatte es exklusiv für sich. Drum war irgendwann Heimgehen fast schwieriger als ins Spital gehen. Sie, sie, sie – lange war das normal. Das müssen wir ihr jetzt sorgfältig abgewöhnen.»

Noch einmal pro Monat muss Meret zur Blutkontrolle, später alle zwei Monate, dann alle drei Monate, dann einmal pro Jahr. Die Erkrankung wird sie lange Zeit begleiten, wird irgendwann hoffentlich zur fernen Erinnerung. Die Familie muss zurückfinden in ein normales Alltagsleben, auch wenn die Beziehung der Eltern nicht mehr funktioniert wie früher.

Meret ist immer noch aufgedreht, rennt zehnmal ums Haus, um ihre Energie loszuwerden. Die Zeiten, wo sie sich vor lauter Gelenkschmerzen nur das Treppengeländer raufziehen konnte, sind vorbei.

Buchtipp: Frisst ein Krebs die Haare auf? Ein Bilderbuch über ein Mädchen, das Leukämie hat. Es erklärt kindgerecht, was dann auf das Kind und die Familie zukommt.

Porträtfoto von Anja Knabenhans - Chefredaktorin mal ehrlich AG

Autorin

Anja Knabenhans ist die Content-Chefin von mal ehrlich. Sie war viele Jahre Journalistin bei der NZZ und NZZ am Sonntag – als Schreibende oder Tätschmeisterin, manchmal auch vor der Kamera oder hinter dem Podcast-Mikrofon. 2017 stieg sie bei Any Working Mom ein. Neben ihrer Tätigkeit bei mal ehrlich macht sie ihr eigenes Ding mit ding ding ding. Während sie beruflich ihre Freude am Tüpflischiss auslebt, zelebriert sie daheim das familiäre Chaos. Sie ist Mutter von zwei Kindern im Schulalter.

Informationen zum Beitrag

Dieser Beitrag erschien erstmals am 13. September 2018 bei Any Working Mom, auf www.anyworkingmom.com. Any Working Mom existierte von 2016 bis 2024. Seit März 2024 heissen wir mal ehrlich und sind auf www.mal-ehrlich.ch zu finden.


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4 Antworten

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  1. Avatar von Eveline
    Eveline

    Ich habe vor 2 Tagen die Diagnose bekommen, dass mein Sohn ALL hat. Er ist noch auf der Intensivstation und nicht über den Berg. Danke für diesen Text. Er gibt mir Kraft

  2. Avatar von Eva Maria Tinner
    Eva Maria Tinner

    Das ist eine sehr schöne Zusammenfassung, die zeigt, dass selbst eine gut heilbare Krebserkrankung wie ALL (das A steht übrigens für akut) im Kindesalter eine riesige Belastung für die kleinen Patienten und ihre ganze Familie ist.

    Wir sollten als Gesellschaft diese Familien besser unterstützen. Daten zeigen, dass sie auch 10 Jahre nach der Erkrankung ihres Kindes finanziell schlechter gestellt sind als andere Familien in der Schweiz.

    1. Avatar von Anja Knabenhans
      Anja Knabenhans

      Danke! (Und das mit dem “akut” hab ich korrigiert, merci für den Hinweis!)

  3. Avatar von Eliane
    Eliane

    Danke für den traurigen, eunfühlsamen und auch hoffnungsvollen Bericht über Meret! Ich wünsche ihr und ihrer Familie alles, alles Gute und habe gerne einen Wunsch für diejenigen geschrieben, die noch mit der Erkrankung kämpfen. Herzliche Grüsse, Eliane